Prolog: Weil tief persönliche, echte Geschichten uns mehr als 100 Seiten Theorie lehren.
Sehr früh in meiner Yoga-Praxis sind tiefe Erfahrungen auf der Matte geschehen.
Ich konnte wahrnehmen, wie feine Bewegungen innerhalb meines Körpers stattfanden, wie sie verschiedene emotionale Zustände und Informationen, die ich nicht immer genau greifen konnte, an die Oberfläche meines Bewusstseins brachten.
Ich hatte Schwierigkeiten, diese Erfahrungen in Worte zu fassen, aber ich hatte erkannt, dass sie den Hauptmechanismus des Yogas als Heilungs- und Entwicklung-Weg ausmachen.
Ich habe Yoga alleine angefangen. Mit einem Buch in einem Gästehaus-Zimmer in Indien. „Asana, Pranayama, Mudra, Bandha“¹ beschrieb sehr genau jede Stellung, wie man rein und raus gehen sollte, wie man drin zu atmen hatte, worauf man die Aufmerksamkeit lenken sollte – körperlich und spirituell – und es gab mir auch eine erste Basis, um Yoga-Sequenzen zu erstellen.
Alleine, häufig nackt, konnte ich mich komplett auf mich selbst konzentrieren, meiner Atmung sehr genau folgen und so lange in einer Stellung bleiben, wie meine Intuition es mir einflüsterte, bis „etwas“ passierte… oder nicht. Ziellos SEIN war das größte Geschenk.
Die Wiederentdeckung der Gegenwart, die absolute Ehrlichkeit der Erkenntnisse, die Effizienz des Fokus, geleitet durch das technische Wissen des Yogas, haben mich zu Verbindung gebracht. Mit mir selbst und mit etwas Größerem als mir, was dieselbe und gleiche Sache ist.
Mit 26 war es die tiefste positive Erfahrung, die ich jemals gemacht hatte.
Zurück in Europa, in den Yoga-Studios der Schweiz, Deutschlands und Frankreichs, war diese tiefe Erfahrung kaum zu finden. Man sprach sehr genau über Stellungen, manchmal über Atmung, ein bisschen über Philosophie, reduziert darauf wie man sein sollte, aber nie über die inneren Bewegungen, die ich auf allen Ebenen in meiner ursprünglichen Praxis erlebt hatte. Ich war nicht mehr alleine und frei, viele im Raum waren mit ihrem Aussehen beschäftigt und ich bin der Ansage eines Lehrers gefolgt.
Was für mich vorher der Kern meiner Erfahrungen auf der Matte war, wurde nicht gelehrt oder geschult. Ich habe mit Yoga aufgehört.
Zehn Jahre später habe ich eine energetische Körper-Arbeit-Ausbildung gemacht. Ich habe Lehrsätze bekommen wie „Energie formt Struktur“ und eine unglaubliche Heilreise erlebt.
Da habe ich endlich verstanden: das, was mich im Yoga berührt hatte, waren Energie-Bewegungen, Energie-Lenkung, die zur Lösung von Blockaden, Heilung von Trauma und Öffnung meines ganzen Wesens geführt hatten. Also Yoga als energetische Körper-Arbeit, worauf alle yogischen Werkzeuge deuten: egal ob Asanas, Pranayamas, Dhyanas, Mudras, Bandhas… Sie sind alle Werkzeuge, die zum Ziel haben, Energie auf eine bestimmte Art in Bewegung zu bringen.
Im Sommer 2019, schon mit meiner Yoga-Lehrerin-Grundausbildung in der Tasche, habe ich einen Wunsch entwickelt: Yoga als energetische Körper-Arbeit zu lernen.
Im Frühjahr 2021 habe ich, durch Vilas und Lalla Turske, Anusara Yoga kennen gelernt. Die Sequenzen waren körperlich intensiv und die unendliche Tiefe der Verbindung war unverkennbar wahrzunehmen.
Ich bin zurück nach Hause gefahren und habe mich auf dem Heimweg entschieden, meine +300h Yoga-Lehrerin-Ausbildung mit Lalla und Vilas zu machen. Am nächsten Tag hat mich die Investitionsbank Sachsen-Anhalt spontan angerufen um mich, als Selbständige, zu fragen, ob ich für eine Weiterbildung finanziert werden möchte. Ich habe eine Nacht darüber geschlafen und am nächsten Tag angefangen den Antrag zu schreiben.
Anusara: flowing with grace, flowing with the Grace, going with the flow… Anusara: anmutig fließen um uns den Höheren zu öffnen.²
² Fußnoten, die so wichtig sind, dass sie hier hochgesprungen sind:
– God is everything: „das Höhere“ definierst DU, sowie Deinen Umgang damit.
– Anmut ist ein Merkmal von hochentwickelten Menschen. Wenn Blockaden beseitigt werden, wenn Menschen durchlässig und stabil sind, sowie mit ihrem gesamten Wesen im Gleichgewicht sind, manifestiert es sich nach außen durch Schönheit in Bewegung.
Anusara Yoga wurde 1994 in den USA durch John Friend gegründet. Es ist ein Hatha-Yoga Stil, der auf die yogische Tradition sowie Erkenntnisse der Sportmedizin, der Biodynamik und des Wissens über Faszien entwickelt wurde.
Anders als viele aktuelle Yoga-Stile, beruht Anusara Yoga auf der lebensbejahenden Philosophie des Tantras³ (Blütezeit: 8. bis 12. Jahrhundert in Nordindien), die u. a. non-dual ist, das heißt: das Gute jenseits von Polaritäten erkennen.
Anusara Yoga benutzt 5 Universelle Prinzipien der körperlichen Ausrichtung (UPA), um Energie in Bewegung zu bringen. In den Worten von John Friend: „Using UPA to make Alignment with Spirit happen in a very efficient way. To bring you into the flow, and when that happens, there is this opening.“
Diese Prinzipien werden „universell“ genannt, „weil sie in jeder Asana angewendet werden können und (…) weil sie den biomechanischen Prinzipien menschlicher Bewegungsabläufe in Bezug zu Gravitation, Eigenkraft, Dehnung, Druck und Zug folgen.“ (Lalla und Vilas Turske ⁴). Es geht hier um Bewegungs-Dynamiken, die jeden Körper in die eigene, gesunde Ausrichtung bringen.
Die 5 UPAs sind:
1. Stabilität und Öffnung
2. Kontraktion
3. Weite (weitende, innere Spirale)
4. Manifestation (manifestierende, äußere Spirale)
5. Expansion
Ein Beispiel für eine Anwendung der UPAs in einer Anusara Yoga-Stunde: es wird nicht angesagt, den hinteren Fuß 45° nach außen zu drehen (was nicht für jedes Knie gesund ist), sondern den großen Zeh zur inneren Ferse zu ziehen, das Bein zu strecken und die Steißbein-Spitze Richtung Matte zu bringen.
Technisch gesehen ist das Ergebnis die Initiierung der inneren energetischen Spirale in dem hinteren Bein, was für Kontraktion und dann Stabilität und Öffnung sorgt. Die Gesundheit des Knies wird unterstützt.
Menschlich gesehen geht es darum, jede/n/s in ihre/seine optimale individuelle Ausrichtung zu bringen, so dass Energie fließt und die Praxis eine sichere, gesunde körperliche Ausrichtung anbietet, die sich als Freiheit, Freude und Frieden manifestiert.
Weiter: niemand wird hier in eine prä-definierte Box, egal ob körperlich oder geistig, gebracht. Die Stellungen werden nicht plakativ auf unterschiedliche Körper und Menschen projiziert. Sondern der eigene individuelle Bewegungsradius wird respektiert und präzise erforscht. Gesunde Impulse werden gegeben, um gesamte Systeme wieder in Gleichgewicht und Kraft zu bringen.
Der tantrischen Philosophie zufolge hat die Anusara-Yoga-Lehrerin keine höhere hierarchische Position, aus der heraus sie Macht über die TeilnehmerInnen ausüben würde. Im Gegenteil: sie teilt ihre Erfahrung des Yogas mit den TeilnehmerInnen, die Erfahrung der Praxis und der Präsenz während der Yoga-Stunde und die Erfahrung des gemeinsamen Lernens. Es gibt keinen Boss im Raum, sondern eine natürliche Öffnung dahin, was sich für jede/n/s stimmig anfühlt.
Unsere Essenz zu erkennen ist ein natürlicher Prozess des Vollkommen-Werdens. Es ist ein nach Hause kommen. Es braucht keine Dogmen, sondern die Wiederentdeckung und das Vertrauen in den eigenen inneren Lehrer.
¹ : „Asana, Pranayama, Mudra, Bandha.“ Swami Satyananda Saraswati. Bihar School of Yoga.
³ : um mehr über die tantrische Philosophie zu erfahren: „Tantra Illuminated“ Christopher D. Wallis.
⁴: „Yoga. Inspiration und Orientierung.“ Lalla und Vilas Turske, parApara Yoga Publikationen.